Geboren 1927

Ich bin ergriffen. Mit wunderschönen Blumen steht meine Nachbarin, 94 Jahre alt, um 18 Uhr vor meiner Tür und bedankt sich bei mir.

Dafür, dass ich ihr heute 2 kleine Beutel in ihre Wohnung in das 2. OG, getragen habe. 94! Unglaublich. Sie sagt, sie ist extra und selbstverständlich noch schnell zum Blumenladen (wo gibt es eigentlich einen Blumenladen in der Berliner Vorstadt? Es gibt keinen!) gegangen, um die Blumen zu besorgen. 94 Jahre alt! Eine von 12 Geschwistern. ❤️ Ihre Mama ist 1897 in Litauen geboren.

Meine Nachbarin erzählt in meinem Flur aus Ihrem Leben, schaut sich um und ich empfinde Ehrfurcht vor diesem langen Leben.

Es geht, denke ich. Es geht, das füreinander da sein, ein Leben lang, gerade auch in schweren Zeiten.

„Kommen Sie wieder gut nach oben“, sage ich zum Abschied. Sie antwortet: „Runter habe ich es doch auch geschafft.“

Ich bin dankbar für diese Momente, in denen Zeit keine Rolle spielt. Bleiben Sie gesund, denke ich.

94 Jahre – meine Nachbarin, Frau C. hat mein Herz berührt.

27.01.2021 Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Am 27. Januar 1945, heute vor 76 Jahren, fand die Befreiung der Überlebenden des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch Soldaten der Roten Armee statt. Seit 1996 wird am 27. Januar bundesweit und gesetzlich verankert an die Millionen Opfer erinnert, die unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft entrechtet, verfolgt und systematisch ermordet wurden.

In der Vergangenheit haben Menschen auf abscheuliche Art und Weise bewiesen, dass das Undenkbare möglich ist: einen Staat und den politischen und administrativen Apparat zur Ausführung eines Völkermordes einzusetzen, ein Verbrechen an dem alle Schichten von Bürger*innen beteiligt waren.

Das Erinnern ist schmerzlich und die Zeit die vergeht, ändert daran nichts. Zu entsetzlich waren und sind die Verbrechen der Nationalsozialist*innen.

Und doch gibt es immer wieder Versuche der Verharmlosung, der Relativierung und der Leugnung der Taten und der Täter*innen, sowie Versuche die Geschichte umzudeuten.

Wir müssen gemeinsam und für zukünftige Generationen alle gesellschaftlichen Kräfte mobilisieren und verhindern, dass diese Versuche gelingen.

Die Vergangenheit gibt uns keine Handlungsanleitungen, aber wer sich ernsthaft mit ihr auseinandersetzt, wird die eigene Sensibilität schärfen, die es dringend braucht, um die gesellschaftlichen und individuellen Entwicklungen der Gegenwart zu lesen, zu deuten und vor allem nicht schweigend hinzunehmen.  

Antisemitismus, Rassismus, strukturelle Diskriminierung waren nie verschwunden. Sie sind in all ihren Facetten tief in unserer Gesellschaft verwurzelt. Und nur, weil man sie nicht wahrhaben will, entzieht man sich nicht der Verantwortung, etwas gegen Ausgrenzung, Hass und Gewalt zu tun. Wir müssen sie erkennen und benennen in all ihren Ausprägungen, um sie gemeinsam entschieden zu bekämpfen. Dabei geht es um nichts weniger als die Verteidigung unserer pluralen Gesellschaft!

Die Verteidigung der pluralen Gesellschaft bedeutet und hier zitiere ich den Lyriker Max Czollek, „an der Umsetzung der Vision gesellschaftlicher Offenheit weiterzuarbeiten, dafür braucht es die Anerkennung akuter existenzieller Bedrohungen der sich derzeit zu viele Menschen in unserem Land ausgesetzt sehen.“[1]

Pluralität anzuerkennen heißt nicht, beliebig das gutzuheißen, was Menschen tun oder sagen. Die Bejahung von Pluralität in unserer Gesellschaft vollzieht sich im normativen Rahmen der UN-Menschenrechte unter Anerkennung der Freiheit und Gleichheit aller Menschen an Würde und Rechten.

Das bedeutet, Menschen in ihrer Verschiedenheit als Individuen anzuerkennen sowie inklusive und partizipative Politiken und Praxen gegen Formen struktureller Diskriminierung zu fokussieren. Für Pluralität einzutreten, bedeutet auch, sich nicht vereinnahmen zu lassen, sondern selbst kritisch zu denken, zu entscheiden und für das eigene Sprechen und Handeln Verantwortung zu übernehmen.[2]

Die Verbrechen der Nationalsozialist*innen sind in ihrer Monstrosität singulär – das bedeutet jedoch nicht, dass sich ähnliche Taten nicht wiederholen können.  

 „Es gibt keine Orte und keine Zeiten, die uns zwingen (dürfen), die tiefste Anerkennung der radikalen Verschiedenheit von Menschen und der Bejahung einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft aufzugeben. Und es gibt keine Orte und keine Zeiten, die uns zwingen (dürfen), das eigenständig-kritische Denken aufzugeben. Die Unverletzlichkeit und die Würde eines jeden Menschen sind der Referenzrahmen.“ (Motto, Institut Social Justice und Radical Diversity)[2]


[1] Max Czollek, 2018, Desintegriert Euch!, 1. Auflage, Carl Hanser Verlag, S.189

[2] Leah Carola Czollek, Gudrun Perko, Corinne Kasner, Max Czollek, 2019, Praxishandbuch Social Justice und Diversity, Theorien, Training, Methoden, Übungen, 2. Auflage, Beltz Juventa, S.9